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Keine Rückwirkung des direkten Forderungsrechts des geschädigten Dritten: Bundesgericht präzisiert Anwendbarkeit von Art. 60 Abs. 1bis VVG

BGE 151 III 35 und die Bedeutung von Art. 103a VVG

26. Mai 2025

Mit Entscheid vom 27. Januar 2025 (BGE 151 III 35, Urteil 4A_189/2024) hat das Bundesgericht den Anwendungsbereich der intertemporalen Bestimmungen des revidierten Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) konkretisiert. Im Zentrum stand die Frage, ob das mit der Revision eingeführte direkte Forderungsrecht des geschädigten Dritten gemäss Art. 60 Abs. 1bis VVG auch auf Versicherungsverträge anwendbar ist, die vor dem Inkrafttreten der Revision am 1. Januar 2022 abgeschlossen wurden.

 

Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin hatte sich im Februar 2014 aufgrund starker Schmerzen an der Hand operieren lassen. In der Folge kam es zu gesundheitlichen Komplikationen, die sie auf eine fehlerhafte ärztliche Behandlung zurückführte. Erst im Jahr 2023 machte sie gegenüber dem Haftpflichtversicherer des behandelnden Arztes eine Genugtuungsforderung geltend und stützte sich dabei auf das inzwischen in Kraft getretene direkte Forderungsrecht gemäss Art. 60 Abs. 1bis VVG. Der zugrunde liegende Versicherungsvertrag sowie das haftungsbegründende Ereignis lagen jedoch vor dem 1. Januar 2022, mithin vor dem Stichtag für das Inkrafttreten der revidierten Gesetzesbestimmungen.

 

Entscheid des Bundesgerichts
Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass Art. 60 Abs. 1bis VVG nicht auf vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossene Verträge anwendbar ist und wies die Beschwerde ab. Kernpunkt der bundesgerichtlichen Erwägungen bildete die Überlegung, wonach der Gesetzgeber mit Art. 103a VVG eine abschliessende Übergangsregelung geschaffen hatte. Demnach würden für Altverträge (solche, die vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossen wurden) lediglich zwei neue Bestimmungen des VVG gelten: Die Formvorschriften sowie das Kündigungsrecht nach Art. 35a und 35b VVG. Ein Rückgriff auf die allgemeinen intertemporalen Regeln gemäss SchlT ZGB sei ausgeschlossen. Insbesondere stelle das Schweigen des Gesetzgebers in Bezug auf Art. 60 Abs. 1bis VVG kein Versehen, sondern eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung dar.

 

Kommentar
Das Urteil bestätigt die in der Lehre vertretene Auffassung, wonach Art. 103a VVG eine abschliessende Übergangsregelung ist, die keinen Raum für eine Rückwirkung weiterer Bestimmungen zulasse. Das Bundesgericht schliesst sich dieser Sichtweise ausdrücklich an und verneint eine unterschiedliche Behandlung von unmittelbar vertragsrechtlichen und drittbezogenen VVG-Bestimmungen. Auch gesetzliche Regelungen wie das direkte Forderungsrecht sind mit dem Versicherungsvertrag verknüpft und sind daher intertemporal gleich zu behandeln wie andere Bestimmungen.

Die von einem anderen Teil der Lehre vertretene Sichtweise, wonach das direkte Forderungsrecht als eigenständig (und nicht von Art. 103a VVG erfasst) zu betrachten sei, hat das Bundesgericht damit klar verworfen.

 

Bedeutung für die Praxis
Das Urteil erhöht die Rechtssicherheit für Versicherer und Versicherungsnehmer. Es steht nun fest, dass das direkte Forderungsrecht nur für Versicherungsverträge gilt, die ab dem 1. Januar 2022 abgeschlossen wurden. Eine Anwendung auf vor dem Inkrafttreten abgeschlossene Verträge ist damit explizit ausgeschlossen.

Zugleich setzt sich das Bundesgericht mit der Entstehungsgeschichte und Systematik des VVG auseinander und verdeutlicht, dass eine explizite und restriktive Übergangsregelung gewählt wurde, die bewusst auf Rechtssicherheit und Praktikabilität abzielt. Darüber hinaus beendet das Urteil die anhaltende Diskussion über die Unterscheidung zwischen unmittelbar versicherungsvertraglichen Bestimmungen und Bestimmungen mit Drittwirkungen im VVG und stellt klar, dass sämtliche Rechte letztlich auf bestehenden Versicherungsverträgen beruhen.

 

Fazit
Mit BGE 151 III 35 hat das Bundesgericht eine Grundsatzfrage der VVG-Revision geklärt und dabei die Rolle von Art. 103a VVG als abschliessende spezialgesetzliche Übergangsregel betont. Das direkte Forderungsrecht gemäss Art. 60 Abs. 1bis VVG gilt somit nicht rückwirkend, sondern ausschliesslich für Versicherungsverträge, die ab dem 1. Januar 2022 abgeschlossen wurden.

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